REGION. -sah/nsc- Idyllische Landschaften, traumhafte Aussichten, historische Schönheiten – und dann brettert ein Güterzug vorbei. Eigentlich gehört das Mittelrheintal zu den bedeutendsten Kulturlandschaften Deutschlands, doch nicht alle Bürger können es gleichermaßen genießen. Vor allem die Anwohner, die in der Nähe von Gleisen leben, haben täglich mit Lärm und Erschütterungen durch Güterzüge zu kämpfen. Denn aktuell donnern mehr als 200 Güterzüge je Rheinseite innerhalb eines Tages durch das Mittelrheintal. Und diese sollen zukünftig schneller, schwerer und länger werden. Der LokalAnzeiger hat mit Vertretern von fünf Bürgerinitiativen (BI), die sich zum Arbeitskreis Bahnlärm Rhein/Mosel zusammengeschlossen haben, gesprochen.
Die Lebensverhältnisse der Bürger an der Bahn müssen verbessert werden, davon sind überzeugt: Rolf Papen von der BI „Wir gegen Bahnlärm in der VG Weißenthurm“, Ferdinand Müller (in Vertretung für Max Op den Camp) von der BI gegen Bahnlärm im Moseltal, Gunter Fröhlich vom Verein zum Schutz gegen Immissionen im Neuwieder Becken, Franz Breitenbach von der Interessengemeinschaft (IG) Schutz gegen Bahnlärm und Erschütterungen Bad Hönningen und Erich Schneider von der IG gegen Bahnlärm und -erschütterung Leutesdorf.
Die drei „Todsünden“
Laut des Arbeitskreis Bahnlärm Rhein/Mosel handelt es sich bei der ersten „Todsünde“ um eine Verordnung des Europäischen Parlaments vom 15. Juni 2010: Gleich drei der insgesamt neun Gütervorrangkorridore, die in Europa vorgesehen sind, verlaufen durch Deutschland. Davon ist das bevölkerungsreiche und vom Tourismus profitierende Mittelrheintal am stärksten betroffen.
Die zweite „Todsünde“ steht mit der ursprünglichen Prioritätensetzung im Projektbeirat zur Machbarkeitsuntersuchung zur Bahnlärmreduzierung in Verbindung. Diese unterteilten sich in: Erste Priorität hat das Obere Mittelrheintal von Rüdesheim bis Koblenz; die zweite Priorität das Untere Mittelrheintal von Koblenz bis Bonn und die dritte Priorität hat der Rheingau inne. Allerdings wurden die Umsetzungen für Lärmschutzmaßnahmen in der zweiten und dritten Priorität auf Eis gelegt. Nach einem Beschluss von 2013 des Beirates „Leises Mittelrheintal“ wurden Leutesdorf und Weißenthurm (Unteres Mittelrheintal) in das Lärmsanierungsprogramm aufgenommen. Und das auch nur, weil sie seitens der Deutschen Bahn vorgeschlagen wurden, so Daniela Schmitt, Staatssekretärin im Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau. Das Moseltal ist bisher im Lärmsanierungsprogramm gar nicht vorgesehen.
Die dritte „Todsünde“ geht mit dem „Masterplan Schienengüterverkehr 2017“ einher. Laut diesem soll die Anzahl der Züge um 40 % steigen und auch die Länge auf 740 Meter – später gegebenenfalls auf einen Kilometer – verlängert werden.
Der Deutsche Michel pennt weiter
Während Oliver Sellnick, Leiter Geschäftsentwicklung der DB Netz AG, trotz Bedenken den ersten Korridor, der von der Nordseeküste über das Mittelrheintal bis nach Genua führt, im November 2013 eröffnete, steht Deutschland vor einer bitteren Erkenntnis.
„Die Niederlande schützen ihre Kühe besser als Deutschland seine Bürger“, bemerkt Rolf Papen.
Denn bereits im selben Jahr haben die Niederlande mit der Betuwe-Linie weitsichtig und umweltfreundlich eine neue Güterzugtrasse von den ARA-Häfen (Antwerpen – Rotterdam – Amsterdam) bis zur deutschen Grenze geschaffen. Den Schweizern gelingt es, durch herausragende Tunnelprojekte – wie dem St. Gotthardt-Basistunnel – den Güterverkehr unter die Erde zu verbannen. Und die Deutschen? Die schicken den Güterverkehr mit bis zu 120 km/h über mehr als 150 Jahre alte Bahntrassen mitten durch die Wohngebiete im Mittelrhein- und Moseltal . . .
Schmerzgrenze erreicht
. . . und das mit gravierenden Folgen, die sich nicht nur körperlich, sondern auch psychisch bemerkbar machen. Vor allem der Lärm und die Erschütterungen sowie der aufwirbelnde Feinstaub und die ständige Angst vor Unfällen oder Bränden wirken sich auf die Gesundheit der Anwohner in der Nähe von Bahngleisen aus. Hierzu hat das Umwelt Bundesamt eine klare Erkenntnis: Um bei geöffnetem Fenster ungestört schlafen zu können, sollte der Schallpegel im Durchschnitt die 40 Dezibel nicht überschreiten. Die traurige Realität sieht allerdings anders aus: Bürger müssen teilweise unerträglichen Lärm bis zu 110 Dezibel – also so laut wie ein Rockkonzert, eine Motorsäge oder ein Presslufthammer – ertragen. Die Erschütterungen führen zu unruhigem Schlaf und Unterbrechungen der Tiefschlafphase durch ständiges Hochschrecken und Zusammenzucken – für den Körper purer Stress.
Die Krux im Hinblick auf die Lärmobergrenzen laut des Bundes-Immissionsschutzgesetzes von 64 Dezibel bei Tag und 54 Dezibel bei Nacht ist, dass die Mittelwerte, mit denen gerechnet wird, nicht die Spitzenwerte wiedergeben. Allerdings sind das genau die massiven Störfaktoren, die den Bürgern den Schlaf rauben. Fakt ist, Lärmbelästigung ist ein Gesundheitsrisiko.
Ein weiteres großes Problem, das bislang unterschätzt wird, ist der Feinstaub, dessen zweitgrößter Verursacher Züge sind. Im Jahr 2016 hat der Bahnverkehr 8630 Tonnen, von rund 39 000 Tonnen aus dem Verkehr insgesamt, verursacht. Dieser entsteht anders als bei Pkw durch den Abrieb auf den Schienen beim Beschleunigen und Abbremsen des Zuges. Der Feinstaub, der dabei entsteht, ist metallisch und nicht so fein wie der im Straßenverkehr. Noch sind zwar keine gesundheitlichen Folgen nachweisbar, die mit diesem Feinstaub in Verbindung stehen, aber im Zuge einer Erneuerung des Gleisbettes muss oftmals der Schotter als belasteter Sondermüll entsorgt werden . . .
Nicht zukunftstauglich: Das muss sich jetzt dringend ändern
Der Arbeitskreis Bahnlärm Rhein/Mosel ist sich einig: „Wir sind nicht gegen die Deutsche Bahn. Wir sind für eine moderne und umweltfreundliche Bahn.“ Um das zu erreichen, stellt die Initiative ihre Forderungen noch mal mit Nachdruck vor. Dazu gehört ein sofortiges Nachtfahrverbot für alle Züge, die mehr als maximal 70 Dezibel Lärm verursachen. Außerdem wird ein sofortiger Stopp der Zunahme des Güterzugverkehrs gefordert. Auch eine Geschwindigkeitsbegrenzung bei Ortsdurchfahrten auf maximal 70 km/h und für Gefahrguttransporte auf maximal 50 km/h muss unverzüglich durchgesetzt werden. Weiterhin sollten die Modernisierung – Umrüstung aller Güterwaggons auf „Flüsterbremsen“ und der Austausch von veralteten Güterwagen gegen Neue, die auf dem aktuellen Stand der Technik sind – endlich greifen. Kontrolle ist wichtig: Deshalb spricht sich der Arbeitskreis für die Errichtung von Kontrollstellen auch im Unteren Mittelrheintal bis Ende 2020 aus.
„Wir kämpfen schon lange und haben auch einige Erfolge zu verzeichnen“, sind sich alle einig. Vor allem das im vergangenen Jahr verabschiedete Gesetz zum Verbot von lauten Güterwagen ab 2020 ist ein Meilenstein für die Bürgervertreter und Bürgerinitiativen. Ein Erfolg, der nur durch das jahrelange Engagement zahlreicher Bürger gemeinsam mit Bürgervertretern und Abgeordneten zustande gekommen ist. Und dieser Kampf muss weiter gehen, um insbesondere das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 GG) zu gewährleisten . . .
Jeden zweiten Dienstag im Monat um 19 Uhr findet am Bahnhof Neuwied eine Bahnlärm-Demo statt. Die nächste Demo ist am 13. November.